Blog: Vor 80 Jahren schuf Kurt Reuber die Stalingradmadonna. Sich an sie zu erinnern, eröffnet einen anderen Blick in die Zukunft, meint Johann Hinrich Claussen. | chrismon

2023-01-05 17:48:18 By : Ms. Susan Chen

Es gab eine Zeit, da hing die Stalingradmadonna in jedem zweiten evangelischen Gemeindehaus. Postkarten und günstige Drucke hatten sie in viele Häuser gebracht, wo sie andächtig betrachtet wurde und manche in der Nachkriegstrauer tröstete. Das ist lange her. Für die evangelische Erbauungsindustrie ist sie uninteressant geworden. Doch wer ihres 80. Jahrestages gedenkt, kann über ihre plötzliche Gegenwärtigkeit erschrecken. Denn unwillkürlich denkt man an die Menschen in der Ukraine, die jetzt mitten in einem kalten, tödlichen Kriegswinter zu überleben versuchen.

Da lohnt es sich, dieses Bild und seine Geschichte wieder in den Blick zu nehmen. Im November 1942 war der deutsche Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion auf katastrophale Weise zum Halten gekommen. 250.000 Soldaten waren in Stalingrad von sowjetischen Truppen eingeschlossen worden. Es fehlte den Deutschen an Nachschub, Munition, Nahrung und Heizmaterial. Den meisten wurde mit jedem Tag klarer, dass sie nicht überleben würden. Anfang Februar 1943 kam es zur Kapitulation, die Gefangenen wurden in Lager transportiert, sehr wenige sollten nach Hause zurückkehren.

Zu den eingeschlossenen deutschen Soldaten gehörte der Lazarettarzt Kurt Reuber (*1906). Wie sein Vorbild und Mentor Albert Schweitzer war er sowohl Theologe als auch Arzt und besaß wie dieser darüber hinaus noch eine künstlerische Ader – allerdings keine musikalische wie der Orgel spielende Schweitzer. Reuber zeichnete.

Um dem Grauen etwas ganz Anderes entgegenzusetzen, malte Reuber zu Weihnachten 1942 eine Madonna. Dazu nahm er, da nichts anderes zur Hand war, eine russische Landkarte – auf der auch heute ukrainische Orte wie Odessa oder Kherson verzeichnet sind –, drehte sie um und zeichnete darauf mit Holzkohle eine Frauenfigur, die in ihrem weiten, dicken Mantel sich und ihr neugeborenes Kind birgt. Liebevoll schaut sie es an. Es zu schützen, scheint ihr einziger Gedanke zu sein. So elementar diese Figur wirkt, so tief ist sie in der christlichen Bildgeschichte verwurzelt. Sie verweist auf Marienikonen aus dem späten Byzanz, auf mittelalterliche Schutzmantelmadonnen und Andachtsbilder der italienischen Renaissance. Eine orthodoxe, katholische, protestantische – schlicht überkonfessionelle Marienfrömmigkeit findet hier so Gestalt, dass auch nicht-christliche Menschen sich von ihr angesprochen fühlen können. Denn was ist menschlicher, schöner und verletzlicher als dies: eine junge Mutter und ihr Säugling?

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Das Bild ist von einem Schriftzug gerahmt: „1942 Weihnachten im Kessel – Festung Stalingrad – Licht, Leben, Liebe“. Damit ist alles gesagt: die furchtbare Gegenwart und die überweltliche Hoffnung.

In Briefen an seine Frau schrieb Reuber: „Das Bild ist so: Kind und Mutterkopf zueinander geneigt, von einem großen Tuch umschlossen, Geborgenheit und Umschließung von Mutter und Kind. Mir kamen die johanneischen Worte: Licht, Leben, Liebe. Was soll ich dazu noch sagen? Wenn man unsere Lage bedenkt, in der Dunkelheit, Tod und Hass umgehen – und unsere Sehnsucht nach Licht, Leben, Liebe, die so unendlich groß ist in jedem von uns!“ Und: „Schau in dem Kind das Erstgeborene einer neuen Menschheit an, das unter Schmerzen geboren, alle Dunkelheit und Traurigkeit überstrahlt. Es sei uns ein Sinnbild sieghaften zukunftsfrohen Lebens, das wir nach aller Todeserfahrung umso heißer und echter lieben wollen, ein Leben, das nur lebenswert ist, wenn es lichtstrahlend rein und liebeswarm ist.“

Sein weihnachtliches Andachtsbild steht nicht allein da. Kurt Reuber hatte etwa 150 Porträts von russischen Menschen angefertigt, von denen er mehrere als deutscher Lazarettarzt behandelt hatte – ein winziges Zeugnis der Menschlichkeit inmitten des völkermörderischen deutschen Terrors. Bezeichnend ist, dass diese Porträts stets mit den Namen der porträtierten Frauen, Männer und Kinder versehen sind. Präziser hätte Reuber dem antislawischen Rassismus der NS-Diktatur nicht widersprechen können. Sein menschlicher Blick auf russischen Menschen erinnert an ähnliche Bilder, die Ernst Barlach etwa zwanzig Jahre zuvor geschaffen hatte. Zu denen, die Reuber als Arzt behandelte und als Künstler zeichnete, gehörte übrigens auch eine junge Mutter, der er bei der Entbindung geholfen hatte. Vielleicht ist die Erinnerung an sie mit in seine weihnachtliche Madonna eingeflossen.

Und so war die erste Reaktion: „Als ich nach altem Brauch die Weihnachtstür, die Lattentür unseres Bunkers, öffnete und die Kameraden eintraten, standen sie wie gebannt, andächtig und ergriffen schweigend, vor dem Bild an der Lehmwand, unter dem auf einem in die Lehmwand eingerammten Holzscheit ein Licht brannte. Die ganze Feier stand unter der Wirkung des Bildes, und gedankenvoll lasen sie die Worte: Licht, Leben, Liebe.“

Mit einem der letzten Flugzeuge wurde das Bild aus Stalingrad ausgeflogen. Reuber gehörte zwar zu denen, die den Kessel überlebten und nach der Kapitulation in russische Gefangenschaft kamen. Doch starb er dort schon 1944 an einer Ohrenentzündung. Heute befindet sich seine Stalingradmadonna in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Berliner Kurfürstendamm.

Dieses Bild hatte eine vielfältige Wirkungsgeschichte. In der Familie Reuber und ungezählten anderen deutschen Familien verband es sich mit der Trauer um Angehörige, die im Krieg ihr Leben verloren hatten. In der evangelischen Kirche inspirierte es die Anfänge von Gedenkkultur, Friedens- und Versöhnungsarbeit. Auch in der jungen Bundeswehr wurde es als Symbol eines neuen militärischen Selbstverständnisses verwendet. Doch was kann man heute noch mit ihm anfangen?

Zum Glück kenne ich einen Enkel von Kurt Reuber. In der vergangenen Woche erzählte mir Jan Tolkmitt davon, welche Bedeutung dieses Bild seines Großvaters in seiner Familie hatte und immer noch hat, und welche Zukunft er sich für die Stalingradmadonna wünscht. Die Rezeption der 1950/60er-Jahre sei abgeschlossen und könne nicht fortgeführt werden. Aber immer noch sollte dieses Bild die Begegnung und Versöhnung zwischen ehemals verfeindeten Ländern fördern. In Coventry gebe es eine Kopie in einer eigens für sie eingerichteten Kapelle. Eine andere hinge in einem Museum im heutigen Wolgograd. Und gleich zu Beginn der Corona-Zeit sei eine weitere der lutherischen Gemeinde in Moskau übergeben worden. Immer noch könne und solle die Stalingradmadonna solche zarten Fäden spinnen. Das würde auch dem Charakter seines Großvaters am ehesten entsprechen. Schließlich zeigte mir Jan Tolkmitt einen Artikel, den die russische Journalistin Ekaterina Glikman vor vier Jahren in der regimekritischen „Nowaja gaseta“ veröffentlicht hatte. (Man kann ihn hier auf Englisch lesen.) Sie war nach Norddeutschland gereist, um den Ort zu besuchen, an dem ihr Großvater als Kriegsgefangener aushalten musste. Dabei diente ihr die Stalingradmadonna als Pfadfinderin zwischen damals und heute, Russland und Deutschland.

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Solch ein Artikel wäre heute in Russland undenkbar. Die „Nowaja gaseta“ ist längst nach Riga ins Exil gegangen. Auch der Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche Russlands musste nach Deutschland fliehen. Und wann kann von einer Reise nach Wolgograd auch nur geträumt werden?

Finster sind hier die Aussichten, bedrängend ist die Lage der Menschen in der Ukraine. Verzweifelt erscheint da die Botschaft dieser Madonna, aber auch kostbar: Licht, Leben, Liebe. In einem dunklen Winter ist dies ein (Glaubens-)Bekenntnis an die Kraft dieser Worte, die eine zeitenlose Hoffnung in die Welt – und ins Werk – setzen.

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