5000 bis 6000 Windeln braucht ein Schweizer Kind durchschnittlich, bis es trocken ist. Dies entspricht etwa einer Tonne Nassabfall. Zehn Prozent des gesamten Hauhaltmülls in der Schweiz besteht aus Wegwerfwindeln. Das schadet nicht nur der Umwelt, sondern auch dem eigenen Portemonnaie. Abfallgebühren und Einweg-Feuchttücher eingerechnet, kostet die Wickelzeit eines Kindes rund 2900 Franken.
Klimakrise, «Fridays for Future» und tonnenweise Abfall durch Windeln. Das will irgendwie nicht zusammenpassen. Zum Glück gibt es Alternativen – eine davon sind die guten alten Stoffwindeln. Damit kennt sich die Spiezerin Anja Herren bestens aus. «Gut sind sie, mit den Stoffwindeln von früher würde ich die modernen Mehrweg-Windeln aber nicht vergleichen.» Anja Herren ist eine sogenannte Stoffwindelberaterin und wickelt ihre kleine Tochter selber mit Stoffwindeln. In letzter Zeit stellt sie ein erhöhtes Interesse am Thema fest. «Erst letzthin hat mir eine Hebamme erzählt, dass in Frutigen und Reichenbach aktuell ein richtiger Stoffwindel-Boom herrsche.»
«Wenn man Kinder bekommt, beginnt man sich viel mehr mit der Frage zu beschäftigen, was man den Kindern vorlebt und vor allem auch, was man ihnen für eine Welt zurücklässt.» Das sei auch für sie der Grund gewesen, sich näher mit dem Thema Stoffwindeln zu befassen. «Vielen Eltern, die ich betreue, geht es auch so – spätestens nachdem sie einige Male ganze Müllsäcke voller Schmutzwindeln zum Container geschleppt haben, fragen sie sich, ob das wirklich sein muss.»
Zu viel Aufwand. Viel zu teuer. Viel zu kompliziert. Mit solchen Vorurteilen sieht sich die junge Mutter aus Spiez regelmässig konfrontiert. «Ich finde es schade, wenn die Leute sagen, es sei nichts für sie, ohne dass sie jemals eine Stoffwindel in der Hand gehalten haben», sagt Anja Herren. «Moderne Stoffwindeln sind von der Handhabung her vergleichbar mit Wegwerfwindeln.» Und: Wer mit Stoffwindeln wickelt, spart langfristig Geld. Wir erinnern uns: Wer mit Einwegwindeln wickelt, zahlt insgesamt rund 2900 Franken. «Das teuerste Stoffwindelsystem wird die Nutzer insgesamt rund 1000 Franken kosten», weiss Herren. Diese Berechnung beinhalte auch die Waschkosten. «Und wenn ich die Windeln für ein weiteres Kind nutzen kann, wird der Vergleich noch viel eindeutiger.»
Der Nachteil von Stoffwindeln: Sie müssen gewaschen werden. «Das ist sicherlich ein Mehraufwand», gibt Anja Herren zu. «Aber es gibt nicht so viel zu tun, wie die meisten denken.» Je nach Stoffwindel-System und Verschmutzungsgrad müssen nämlich nur die Einlagen der Mehrwegwindeln gewaschen werden.
Eins vorneweg: Das grosse Geschäft landet üblicherweise auf einem eingelegten Windelvlies. Dieses kann einfach in der Toilette entsorgt werden. Den Rest der Stoffwindel – oder eben nur die jeweilige saugfähige Einlage – wird dann in einem sogenannten Wetbag aufbewahrt. Alle zwei bis drei Tage wird die Windelwäsche dann in der Waschmaschine gereinigt. Normalerweise bei 60 Grad, bei Bedarf auch mal als Kochwäsche.
Die sogenannte «Windelfrei-Methode» basiert auf der «Elimination Communication» – also der Ausscheidungskommunikation. Das Kind soll anzeigen, wenn es mal muss, und die Eltern reagieren darauf. Und zwar nicht, indem sie dem Baby eine Windel anlegen, sondern ihm eine Alternative anbieten und es über das Waschbecken, die Toilette oder ein Töpfchen halten. Daher der Begriff: das Baby abhalten.
Die Idee hinter der Windelfrei-Methode ist, dass kein Baby gerne in seinen eigenen Ausscheidungen liegt. Evolutionsbedingt betrachtet, lockt der Geruch sogar Fressfeinde an. Für uns ist es völlig normal, ein Baby direkt nach der Geburt zu wickeln. In vielen anderen Ländern und Kulturen sieht das jedoch anders aus: Dort wird das Abhalten seit Generationen praktiziert. Das Mitteilen von Babys, wenn sie ausscheiden müssen, sei es durch Geräusche oder bestimmte Gesichtsausdrücke, hat eine ganz andere Bedeutung als bei uns. Eltern müssen hierzulande nicht bewusst auf die Signale ihres Kindes achten, wenn es mal muss – die Windel fängt schliesslich alles auf. Die Methode wird in vielen Fällen bereits ab der Geburt angewandt.
Mehrere Studien sind in den letzten Jahren zum Schluss gekommen, dass die Öko-Bilanz von Stoffwindeln nur minim besser sei als die von Einwegwindeln. Der Grund: Die Windeln müssen gewaschen werden und landen zum Trocknen oftmals im Tumbler. «Idealerweise lässt man die Stoffwindeln an der Luft trocknen», sagt Stoffwindelberaterin Anja Herren. Das spart nicht nur Strom, sondern hilft auch beim Kampf gegen Flecken. «Trocknen die Windeln an der Sonne, verschwinden bestimmte Flecken dabei.» Werden Stoffwindeln also richtig gewaschen, getrocknet und für mehrere Kinder verwendet, ist deren Öko-Bilanz wesentlich besser als die von Einwegwindeln.
Zu dieser Erkenntnis sind in den letzten Jahren auch Länder wie Deutschland oder Österreich gekommen. In gewissen Landkreisen und Städten werden Eltern, die mit Stoffwindeln wickeln, mittlerweile sogar mit einem finanziellen Zustupf belohnt.
Laut Anja Herren interessieren sich ausserdem viele Eltern für Stoffwindeln, die Wert darauf legen zu wissen, welche Materialien tagtäglich mit der sensiblen Babyhaut in Berührung kommen. «Wenn man sich erst einmal einen Überblick über die verschiedenen Stoffwindel-Systeme und Materialien verschafft hat, kann man die Stoffwindel komplett auf die eigenen Bedürfnisse anpassen.» Egal, ob Baumwolle, Bambus, Hanf oder Wolle – da ist für jeden Geschmack etwas dabei. «Bei der Stoffwindel weiss man genau, welche Materialien verarbeitet wurden – bei Einwegwindeln ist das eine andere Geschichte.»
So sorgen chemische Stoffe, sogenannte Superabsorber, für die sehr hohe Saugfähigkeit von Wegwerfwindeln. «Aber diese Stoffe entziehen auch die Feuchtigkeit der Haut», weiss Herren. Auch der Umstand, dass Kinder immer später trocken werden, wird auf die hohe Saugfähigkeit von modernen Einwegwindeln zurückgeführt. «Die Kinder spüren gar nicht mehr, wenn sie nass sind – sie verlernen so sehr schnell, das Gefühl der Nässe mit dem Harndrang in Verbindung zu bringen.» So scheint es nicht verwunderlich, dass das Trocken werden zur immer grösseren Herausforderung wird. «Kinder, die mit Stoffwindeln gewickelt werden, werden tendenziell früher trocken», sagt Herren.
Ein klein wenig überfordert fühlt man sich schon, wenn man sich zum ersten Mal mit modernen Stoffwindeln beschäftigt. Verschiedene Wickelsysteme, verschiedene Materialien, verschiedene Grössen – da verliert man anfangs ziemlich rasch den Überblick. «Das stimmt», bestätigt Anja Herren. «Es braucht Zeit, um sich ins Thema einzulesen – das Wissen rund um natürliches Wickeln ist in den letzten 50 Jahren verloren gegangen.»
Sie rät werdenden Eltern oder anderen Interessierten darum zu einer Beratung. «So kann man sich alles in Ruhe anschauen und auch anfassen.» Üblich ist auch die Vermietung von Testpaketen. «So kann man direkt rausfinden, was fürs Kind und für die Eltern funktioniert.» Gibt es denn auch Eltern, die ein Testpaket bestellen und sich dann doch für Wegwerfwindeln entscheiden? «Ja, das gibt es schon ab und zu», sagt Anja Herren. «Aber das finde ich auch völlig legitim – ich freue mich aber immer, wenn junge Eltern den modernen Stoffwindeln wenigstens eine faire Chance gegeben haben», sagt die Spiezerin und schmunzelt.
Stoffwindelverein Schweiz: www.stoffwindelverein.ch
Übersichtliche Informationen und nützliche Tipps zu Stoffwindeln: www.windelmanufaktur.com
Webseite von Anja Herren: www.kaja-babymode.ch